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(Mit) Rucksack und Rentner um die Welt

28 JAHRE TRENNEN UNS – VERRÜCKTE IDEEN EINEN UNS

Reinhard im trojanischem Pferd
Von Erdogan zu Homer

Von Erdogan zu Homer

12. Oktober 2019 Reinhard Junge Comments 6 comments
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„Passt bloß auf, wenn ihr durch die Türkei reist.“
Die Warnung meiner Tochter habe ich noch im Ohr, als wir das Chaos an der Grenze hinter uns lassen. Wir sitzen in unserem Taxi und haben Zeit, uns zu wundern.
„Ich hab echt Schiss gehabt“, sage ich zu Chrissie. Doch die schüttelt nur den Kopf über mich. Ich weiß, warum. Die Diskussion hatten wir schon.  Aber ich kann nicht aufhören an die Berichte über Touristen zu denken, die bei der Einreise festgenommen wurden.  Sie mussten ihr Tablet oder Smartphone aushändigen, damit die türkischen Beamten ihre Einträge bei Facebook kontrollieren konnten. Kritik an Erdogan wird gern als „Terrorpropaganda“ verstanden.
Chrissie hat stets abgewinkt: „Das ist bisher nur Leuten passiert, die türkische Wurzeln haben!“
„Ich will nicht der Erste sein, dem das auch ohne türkischen Pass passiert.“
„Wie sollen die dich denn finden? Über Erdogan hast du doch nur unter ‚Reinhard Young‘ gemeckert …“
„Stimmt. Aber trotzdem …“
Also habe ich meinen Facebook vor der Abreise gelöscht. Umsonst, denn in dem Ansturm an der Grenze hatten die Polizisten nicht so viel Muße wie ihre Kollegen an den Flughäfen. Hier ging es nur noch darum, alle Reisenden durchzuschleusen. Ich beschwere mich nicht.
Van empfängt uns mit einer Überraschung: eine lebendige Stadt voller buntem Leben. Nach dem Einchecken im Hotel ziehen wir auf Entdeckungstour. Jede Menge Restaurants, Cafés und Bars. Endlich wieder richtiges Bier und kühler Weißwein auf den Getränkekarten!
Hopfen in Van
Hopfen und Malz sind in Van nicht verloren gegangen
Am zweiten Nachmittag ändert sich die Stimmung. An den Straßenkreuzungen ziehen bewaffnete Polizisten auf, der erste Wasserwerfer geht in Stellung. Erdogan hat in mehreren (meist kurdischen) Städten die Bürgermeister abgesägt und durch treue Gefolgsleute ersetzt. Auch in Van finden Proteste statt.
Auf dem Weg zum Busterminal sehen wir zwei weitere Wasserwerfer und noch mehr Polizei.
Van
kein – keine Verhaftung

Und als wir eine Stunde später mit dem Nachtbus nach Ankara starten, kommen uns kurz nacheinander vier oder fünf Ambulanzwagen mit Blaulicht entgegen. Alle in Richtung City. Gehören diese Beobachtungen zusammen? Wir erfahren es auch später nicht.
Es wird Nacht. Aus dem Schlaf im Bus wird vorerst nichts. Schon nach 50 Kilometern verengen Betonblöcke die Fahrbahn zu einer Schmalspurstrecke. Polizeisperre. Wir werden rechts ran dirigiert. Ein Polizist entert den Bus, sammelt unsere Pässe und die Ausweise der türkischen Fahrgäste ein, verschwindet. Zehn Minuten geht es weiter. Offenbar steht keiner der Namen im Fahndungscomputer.
Die nächste Kontrolle findet 40 Minuten später statt. Alles wie gehabt. Beim dritten Mal kommt ein Zivil gekleideter Hüne herein, eine Passagierliste in der Hand. Dem jungen Mann auf dem Einzelsitz links neben uns stellt er eindringlich mehrere Fragen. Der Fahrgast nennt u.a. den Namen einer kurdischen Stadt, in der er zehn Minuten später aussteigen wird. Seinen Ausweis bekommt er erst nach einem langen, forschenden Blick des Kontrolleurs zurück.
Diabakyr, die größte Stadt im türkischen Kurdistan lassen wir aus. Die nächste Überprüfung beschränkt sich auf eine kurze Gesichtskontrolle, die folgende fällt aus, weil die Polizisten am Straßenrand sitzen, Tee trinken und rauchen – wir haben Kurdistan verlassen. Keine „Gefahr“ mehr, dass im Bus jemand zur kurdischen Befreiungsbewegung unterwegs ist.
Wochen später wird deutlich: Die Türkei führt Krieg gegen die Kurden – auf beiden Seiten der Grenze zu Syrien. 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern droht hier nun das nächste Massaker. Unsere Regierung will keine neuen Waffen an die Türkei genehmigen – aber liefert sie die bereits genehmigten noch aus?

Ankara
Unser Hotel liegt in der Altstadt. Steile Straßen und Gassen, auf den Hügeln ringsum moderne Hochhäuser. Nach dem Einchecken meldet sich der Hunger. Jede Menge Schnellrestaurants in der Nähe. Gar nicht einfach, etwas Vegetarisches zu finden. Aber eine Pide mit Gemüse tut’s auch.
Nicht weit weg, auf dem höchsten Berg in diesem hügeligen Talkessel, thront eine alte Festung.

Ankara Festung
Ankara Burg mit Flagge Die ersten Schritte hinauf fallen schwer: Unsere Beine sind das Klettern nicht mehr gewöhnt, aber es lohnt sich.
Ankara Burg Eingang
Reinhard erschöpftDer Ausblick von ganz oben ist fantastisch. Rings um die Burg haben sich überraschender Weise nicht die Reichsten der Stadt angesiedelt. Kinder laufen auf den schmalen Straßen herum, eine Frau breitet auf dem Pflaster ein großes Tuch aus, um Körner zu trocknen, ein fleißiger Mann streicht die Balken seines Minimarktes mit weißer Farbe, Hunde und Katzen sonnen sich auf warmen Steinen. Idylle mitten in der Millionenstadt.
Ankara Straßenleben
Ankara Haus
Gar nicht idyllisch sieht die alte Festung aus. Teile der Mauern sind verschwunden, offenbar Baumaterial für die Anwohner. Das Gelände ist von rostigen Zäunen umgeben, dahinter blühen Unkraut und Abfall. Solch ein altes Bauwerk hätte einen besseren Lebensabend verdient. Dennoch flattert oben auf dem Bergfried die rote Landesfahne mit dem Halbmond. Ist es noch niemandem aufgefallen, dass sie einen abnehmenden Mond zeigt?
Ankara Sonnenuntergang
Wir bleiben bis zum Sonnenuntergang.
Ankara nachts Chrissie
Nur ein Lokal oben. Nur: Warum gibt es hier nichts außer Tee? 😩

Abstieg. Bierdurst. Suche nach einem gemütlichen Kneipchen. Direkt am Weg lockt ein Hotel mit einer kleinen Terrasse. Der freundliche Hausherr versteht unsere Nöte, aber bedauert. Alkoholisches hat er nicht im Angebot, aber einen guten Tipp. Allerdings müssten wir ein paar Kilometer fahren.
Um Geld zu sparen, versuchen wir es zuerst in der Nähe unseres Hotels. Jede Menge schummriger, schwüler Bars mit Türhütern, einsamen Animiermädels, Schweiß treibenden Preisen und Tinnitus fördernder Musik. Nee!
Unsere letzte Hoffnung ist die Adresse, die uns der freundliche Hotelier mitgegeben hat. Wir landen in einer unbeschwerten Kneipenszene.

Ankaras Bermuda3eck
Der Krieg ist hier weit weg. Und wir sind froh, unseren Schlaftrunk zu bekommen. Wenn das schon uns so leichtfällt, die Bilder aus Van auszublenden …
Reinhard Bier
Istanbul 
Groß, chaotisch, faszinierend. Wir wissen gar nicht, wie wir in den paar Tagen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten „abarbeiten“ sollen. So beschränken wir uns auf wenige Highlights. Eine Enttäuschung bringt der Besuch bei den Tanzenden Derwischen: Sportlich sicher eine Leistung, aber fünf Männer, die in weiten Röcken eine halbe Stunde lang nur Drehkreisel spielen, sind eher zum Einschlafen.
Whirling DervishesViel interessanter finden wir den Spielort: einen gediegenen Saal im alten Bahnhof des legendären Orient-Expresses, der nur noch ein Mal pro Jahr fährt. Das Bahnhofsrestaurant hält immer noch vorzügliche Weine bereit.
Orient Express
Am 20. September setzen wir zum asiatischen Ufer von Istanbul hinüber. (Istanbul ist die einzige Stadt der Welt, die auf zwei Kontinenten liegt.)
Istanbul Bosporus
Bei schönem Wetter sieht das so aus.
Dort soll eine Demonstration stattfinden. Die „Fridays for Future“ haben auch die Türkei erreicht.

Wir sind gespannt, ob das alles friedlich abläuft. Auch in Istanbul hat die Polizei in den letzten Jahren manche regierungskritische Aktion mit Schlagstöcken und Gummigeschossen beendet. Aber andererseits gibt es hier jetzt einen liberaleren Bürgermeister, den der Präsident nicht so einfach absetzen konnte. Erdogan hatte zwar eine Wahlwiederholung durchgesetzt – aber der Neue bekam dabei noch mehr Stimmen als zuvor …

Die heutige Demonstration hat über Nacht einen anderen Gegner bekommen: heftigen Regen. Wir sind gespannt, wie viele Leute trotzdem kommen – und ob wir den Versammlungsplatz überhaupt finden. Doch das ist nicht schwierig: Etliche Leute mit Plakaten ziehen zu einem Platz unweit der Anlegestelle. Musik erklingt. Nach und nach treffen sich da mehr als tausend Menschen.
Istanbul Klimademo
Eine junge Frau verteilt vorbereitete Plakate, auf denen das Verbot fossiler Brennstoffe gefordert wird. Wir ergattern auch eins und fragen, wie sich wohl das Wetter auf die Teilnehmerzahl auswirkt. Sie lächelt ein wenig schmerzlich: „Viele Eltern werden ihre Kinder zu Hause behalten. Die Regierung hat nämlich gewarnt: Nach einem Chemieunfall in der Nähe bestehe die Gefahr, dass der Regen an diesem Tag giftig sein kann.“
Ihr Schulterzucken verrät, dass sie große Zweifel daran hat, dass es diesen Unfall überhaupt gegeben hat.
Istanbul Klimademo
Junger Aktivist

Der Zug setzt sich in Bewegung. Bunt, lautstark, aber doch etwas ungeordnet. Entgegen unseren Befürchtungen gibt es keine Zwischenfälle.

Istanbul Klimademo Die Demonstration endet in einem schönen, aber regennassen Park. Von den Redebeiträgen bekommen wir so gut wie nichts mit – man müsste Türkisch können …
Ach ja, die Polizei? So gut wie unsichtbar. Erst ganz zum Schluss der Kundgebung entdecken wir zehn Polizisten unter einem Regendach: junge Kerle in Jeans und Turnschuhen, keine Waffen und nur an ihren Trainingsjacken mit der Aufschrift „Police“ erkennbar. Als das Wetter zu ungemütlich wird, sind sie plötzlich verschwunden. Auch wir treten den Rückzug an.
Chrissie hat eine Menge zu organisieren. Die Fahrt zu dem legendären Troja, die Weiterfahrt in Richtung Bulgarien, das Buchen von Unterkünften. Chrissie kriegt alles hin. Auch wenn das manchmal mit meiner Dauermüdigkeit kollidiert. Und besonders kompliziert wird es, wenn wir ein Restaurant suchen. Es gibt jede Menge, meist sogar mit schönen Plätzen vor dem Haus.
Die meisten Lokale haben ihre Speisekarte auf der Straße ausgehängt oder ausgelegt. Kaum nähern wir uns einem solchen Objekt, kommen bis zu drei Kellner auf uns zu: „Ah, welcome, we have wonderful  …“
„Please let me read your menue!“
„Well, look here, wonderful fish .. “
„I’m vegetarian …“
„Okay, chicken with rice?“
„Please, let me read. I can see the pictures and can read!“
„Oh, yes, here you can open our menue …“
Abbruch des absurden Theaters, zehn Schritte weiter folgt die Wiederholung des Schauspiels. Und nochmal zehn Schritte weiter . .
Einen Abend sind wir nach solch einer Foltertour auf dem Rückweg zum Hotel. Ja, wir haben doch noch ein Restaurant gefunden, in dem man a) in Ruhe die Speisekarte studieren durfte und b) wusste, dass Hühnchen, Hammel und Hund nicht zu einem vegetarischen Mahl gehören. Aber wir sind müde – zu viel Rennerei, zu kurze Nächte.
Plötzlich entdeckt Chrissie eine Frau mit einer Einkaufstüte aus Papier und vier aufgedruckten Buchstaben, Nummer zwei und vier sind ein „o“.
Ein Verdurstender, der vor sich im Wüstensand eine Flasche Wasser entdeckt, kann nicht euphorisierter sein: „Kuck mal, hier gibt es einen Laden mit veganen Schuhen!“
Handy raus, Navi gesucht, tipp-tipp-tipp!
„Ja, ganz in der Nähe! Nur 650 Meter!“
Vergleichende Blicke auf Umwelt und Monitor! „He, wir müssen nur diesen Berg hoch!“
Der Weg erinnert mich an die steilsten Aufstiege in der Altstadt von Porto. Nur die 800 Stufen von Petra waren schlimmer.
„Muss das sein? Jetzt noch?“
„In Deutschland kann man die nur online bestellen. Aber hier gibt es einen Laden!“ Und schon wetzt sie los, als gäbe es da oben ein Los für die Rente auf Lebenszeit.
Verbissen schweige ich, denn jeder Protest ist zwecklos. Als ich in ihrem Kielwasser oben ankomme, sucht sie bereits ein paar Schuhe aus. Nicht nur das recycelte Material ist ungewöhnlich, sondern auch die Designs fallen auf.
Dogo Schuhe
„Guck mal, der hier würde dir passen!“
Auf dem linken Schuh prangt die Aufschrift „Lost in Space“, auf seinem Bruder zischt gerade ein Komet in unendliche Weiten davon. Aber ich bin im Moment nicht vom Kopf bis zum Fuß auf „Star Trek“ eingestellt.
„Such was für dich aus, ich stehe da drüben und erhole mich erst mal …“
Chrissie wird fündig, freut sich und ignoriert mein Grummeln. Immer wieder faszinierend, wie schnell neue Schuhe Frauen glücklich machen können. Und dazu kommt bei veganen Exemplaren die Gewissheit, dass für diesen Einkauf nicht irgendwo ein armes Schwein sterben musste.
Für alle, die finden, das Istanbul zu kurz gekommen ist, hier ein paar Fotos der dortigen Sehenswürdigkeiten.
Moschee
Basilika
Medusa
Istanbul City
Taksim Platz
Tram und Maronenverkäufer
Ägyptischer Basar
Ägyptischer Basar
Basar Leckereien
Basar Lampen
bei der Hagia Sophia
Istanbul Boote
Istanbul Brücke
Istanbul Skyline
Hagia Sophia 
Hagia Sophia
Hagia Sophia innen
Hagia Sophia innen
Hagia Sophia innen
Hagia Sophia innen
Hagia Sophia innen
Hagia Sophia Jesus
Hagia Sophia innen
Hagia Sophia innen

Canakkale

Zwei Stunden mit einer Fähre durchs Marmarameer. Das Bötchen fasst mehr als 200 Passagiere und ist fast so schnell wie jene „Raketa“, mit der ich einst von Irkutsk zum Baikal fliegen durfte. Katamarantechnik: Zwei Flossen heben den Schiffskörper hoch und bieten dem Wasser weniger Widerstand. Der Himmel ist blau, das Meer ruhig, kein böses Schaukeln – und wir rauschen an vielen riesigen Containerfrachtern vorbei, die in Richtung Schwarzes oder Ägäisches Meer schnaufen. Nur Fliegen ist schöner – aber das sage ich lieber nicht laut.

Canakkale liegt am Ostende der Dardanellen, wo die Ufer dieses Wasserweges so nah zusammenrücken, als wollten sie die durchfahrenden Schiffe zerquetschen. Hier kommt niemand gegen den Willen der Türkei durch.
Wegen dieser Lage hat Heinrich Schliemann vor 150 Jahren das alte Troja zuerst hier gesucht. Troja verdankte seinen Reichtum vermutlich der Piraterie und der Erpressung von Durchfahrtszöllen. Kaum vorstellbar, dass die Griechen die Stadt zehn Jahre lang wegen der Entführung Helenas belagert haben. Wer führt schon so lange einen verlustreichen Krieg, um den gekränkten Stolz eines Mini-Königs zu reparieren?  Jünger und schöner wurde Helena in dieser Zeit auch nicht. Aber Homer hatte wohl auch eine romantische Ader 🙄 … 
In Canakkale traf Schliemann einen britischen Offizier, der ihm den entscheidenden Tipp gab, 40 Kilometer weiter westlich, am anderen Ende der Dardanellen, zu suchen. Dort gab es ja diesen ominösen Hügel, wo jeder Spatenstich auf antike Spuren traf …
Von allen Hafenstädten, die wir unterwegs besucht haben, bietet Çanakkale vom Meer aus den schönsten Anblick. Die gesamte halbkreisförmige Bucht wird von einer breiten, einfallsreich gestalteten Promenade gesäumt, die allein den Fußgängern zur Verfügung steht. Bänke und viele Cafés und Restaurants laden zum Ausspannen ein. Die ganze Innenstadtstadt wirkt angenehm untouristisch.
Trojanisches Pferd
Japaner drehten einen Troja-Film und überließen der Stadt dieses schöne Requisit
Canakkale Ufer
Unser Quartier liegt nicht weit weg vom Hafen – wir schaffen die Strecke trotz unseres Gepäcks in knapp 15 Minuten. Ein freundliches Ehepaar, eher in meinem als in Chrissies Alter, empfängt uns in einer gemütlichen Wohnung mit einer großen Büchersammlung. Als ich mir die Titel anschaue, werde ich an meine kleine Bibliothek erinnert: Anna Seghers und Heinrich Böll, Dostojewski und der sowjetische Literaturnobelpreisträger Michail Scholochow, dazu zwei bekannte Theoretiker aus Elberfeld und Trier … Und das in der Türkei!
Am Abend erzählen uns die beiden von ihrem gesellschaftlichen Engagement. Auch die Türkei hat ihren Hambacher Forst. Ganz in der Nähe will ein Kohlekonzern ganze Wälder abholzen und die Landkarten verändern – Canakkale würde von seiner Wasserversorgung abgeschnitten. Doch eine rührige Bürgerinitiative will diese Pläne durchkreuzen. Und irgendwie endet der Abend dann damit, dass wir zusammen das italienische Partisanenlied „Bella ciao“ singen – nicht unbedingt schön, aber in dem Gefühl, unvermutet verwandte Seelen getroffen zu haben.
AirBNB Freunde
Mehmet und Vahide
Mehmet und Vahide – die beiden sind am Abfahrtstag bis 3:00 Uhr morgens wach geblieben, um uns zum Bus zu bringen und zu verabschieden.

Abfahrt aus Canakkale

Troja
Homers Versromane über den Kampf um Troja und die Irrfahrten des Odysseus sind die ältesten überlieferten literarischen Werke Europas. Lange Zeit war unklar, ob diese Erzählungen einen wahren Kern haben oder pure Fiktion sind. Sie haben Heinrich Schliemann vor über 150 dazu inspiriert, reich zu werden, um mit seinem Geld die versunkene Stadt zu finden – als Beweis dafür, dass Homer ein wahres Ereignis beschrieben hat. Und der kleine Reinhard J. war davon so begeistert, dass er auch Archäologe werden wollte und deshalb ein altsprachliches Gymnasium besuchte. Ein Freund meines Vaters kommentierte diesen Entschluss mit der schlichten Frage: „Und deshalb lasst ihr das arme Schwein Latein und Griechisch lernen?“ 
Hat er – aber nicht unbedingt mit glänzenden Ergebnissen. Er ist auch nicht Archäologe geworden. Aber der Traum, eines Tages am Ort der Kämpfe zwischen Hektor und Achilles zu stehen, hat ihn über 60 Jahre nicht losgelassen.
„Erwarte nicht zu viel“, warnt Chrissie am nächsten Morgen vor der Fahrt zum Nationalpark Troja, „in Persepolis gab es mehr zu sehen.“
Bus nach Troja
Ungetrübte Vorfreude
Das ist mir auch klar. Persepolis wurde nur ein Mal zerstört und nie wieder aufgebaut – aber Troja achtmal. Und diese acht Ruinenfelder sind nicht so schön sauber aufeinander gepackt worden wie die Schichten einer Buttercremetorte. Mal wurde nur an einem Ende etwas wieder aufgebaut, dann wieder eine andere Ecke. Kein Wunder, dass Schliemann mit seinen Möglichkeiten bei der Identifizierung seiner Funde manchem Irrtum unterlag …
Eine gute halbe Stunde sind wir unterwegs, dann liegt der Nationalpark vor uns. Blickfang ist ein riesiges hölzernes Pferd – architektonisch ein Fake.
Reinhard mit trojanischem Pferd
Das Pferd, das Odysseus angeblich ersonnen hat, besaß mit Sicherheit keine Fenster – dann hätten die Trojaner die darin verborgenen Griechen entdeckt und den Gaul samt Innenleben noch vor ihren Mauern verbrannt. Doch bei Homer steht, dass sie extra ein Stadttor eingerissen und das vermeintliche Geschenk der Göttin Athene auf dem Markt aufgestellt hätten. Konnte er ahnen, dass er damit Namensstifter für Computer-Schädlinge wurde? Sicher nicht.
Die Besucher stört der Anachronismus nicht. Auch Reinhard J. kann der Versuchung nicht widerstehen, über eine Leiter in den Bauch des hölzernen Zossen zu klettern und aus dem Fenster zu winken.
Reinhard im trojanischem PferdDer Rundgang durch die riesige Ausgrabungsstätte ist faszinierend. Überall stehen Hinweisschilder, die erklären, welche der acht Schichten der Buttercremetorte man gerade betrachten kann. Was für eine Schweinearbeit für die Archäologen! In Persepolis hat man ein einziges Puzzle mit Tausenden Teilen ordnen müssen, hier sind es gleich acht – und alle wild durcheinandergeworfen. Unfassbar! 
Troja
Troja
Troja
Schliemann Trench
Troja
Ein paar Fotos unseres Ausflugs postete ich vorab auf Facebook. Sofort meldet sich ein aufmerksamer Freund und meint, so groß könne Reinhards Glück, endlich Troja zu sehen, gar nicht sein – sein Gesicht wäre dafür viel zu ernst.
Reinhard in tiefer Lektüre
Reinhard in tiefer Lektüre versunken
Doch, ich finde es toll. In der Ebene vor den alten Mauern hat es vielleicht wirklich diese Kämpfe gegeben. Aber ich kann nicht auf Kommando lächeln und meine Zahnreihen zeigen, wie ein Model oder jene Teenies, die für Selfies posieren. Und schon gar nicht, wenn mir die Sonne ins Gesicht scheint. Das hat vor 65 Jahren schon meine Oma Mimi gestört, wenn sie mich fotografieren wollte: „Warum kneifst du die Augen zusammen? Mach sie auf, Junge!“ 
Auf unserer Reise höre ich diese Worte fast jeden Tag. Nein, Oma Mimi ist nicht auferstanden. Aber Chrissie bringt mein reduziertes Lächeln bei jedem Foto zur Verzweiflung. Tut mir leid, ich kann nicht anders! 
Chrissie
Wenn er sich doch nur etwas Mühe geben würde … (seufz)
Reinhard gegen die Sonne

 


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6 thoughts on “Von Erdogan zu Homer”

  1. Bina sagt:
    15. Oktober 2019 um 13:11 Uhr

    Salut!
    Karibische Grüße – wo auch immer ihr gerade seid.
    Ich habe eure Berichte – trotz Ortswechsel – natürlich weiter begierig verfolgt.
    Als eine, die 3 Jahre in der Türkei gearbeitet hat, weiß ich leider, dass es nicht nur Menschen mit türkischen Wurzeln treffen kann. Die selbst erlebte „Hexenjagd“ war ziemlich nervenaufreibend.
    Wie cool, dass ihr in Istanbul bei FFF dabei gewesen seid 😁
    Habt es gut auf den letzten Reisetagen. Ich finde zurück kommen schwerer als wegfahren.
    Passt auf euch auf.
    Liebe Grüße, Bina

    Antworten
    1. Reinhard Junge sagt:
      15. Oktober 2019 um 21:18 Uhr

      Deine Türkeierfahrungen hatte ich längst vergessen. War schon spannend – und wir mussten hier zum Glück nicht arbeiten. Als braver Tourie kommt man ja nicht so schnell in Kollisionsgefahr … Dir noch gute Erholung, egal, wo du gerade steckst. Mal sehen, wer zuerst wieder im Ruhrpott aufläuft: Nächste Woche Freitag wollen wir wieder in Bochum auf die Straße …

      Antworten
      1. Bina sagt:
        15. Oktober 2019 um 23:33 Uhr

        Auf Terre de Haut, Guadeloupe.
        Dort lerne ich das „Schlendern“.
        Nächste Woche Sonntag schlendere ich langsam wieder im Ruhrpott ein.
        Freue mich total auf eine Begegnung! Genießt in vollen Zügen! (Also nicht in vollen Zügen – du weißt schon) ✨🌕

        Antworten
        1. Reinhard Junge sagt:
          17. Oktober 2019 um 16:28 Uhr

          Guadeloupe ist klasse! Das war Chrissies und meine erste gemeinsame Fernreise. (Preisfehler-Schnäppchen: pro Person ab Paris und zurück für 199 €!) Malerisch und schön untouristisch. Die einzigen Deutschen haben wir im Nebel oben auf dem Vulkan La Soufriere getroffen – „Nachbarn“ aus Essen-Steele. Aber was meinst du mit „schlendern“? Gute Erholung! Bis bald!

          Antworten
  2. Heidi und Bodo sagt:
    14. Oktober 2019 um 10:07 Uhr

    Der erste Teil Eures Artikels liest sich fast wie ein Krimi!
    Aber diesen Abschnitt habt Ihr ja unbeschadet überstanden!
    Dann folgten Ankara, Istanbul und viele kulturelle Highlights, kulinarische Erlebnisse sowie mal wieder ein freundliches „Welcome“ von Mehmet und seiner Frau!
    Und dann ging Reinhard‘s Kindheitstraum in Erfüllung, auf Schliemann‘s Spuren zu wandern! Troja! Toll!
    Es geht weiter, Richtung Bulgarien, neue Erlebnisse und Herausforderungen warten auf Euch! Dank Chrissie’s Organisationstalent klappt alles, wenn auch das Internet manchmal Nerven kostet! Kommt gut weiter, bleibt gesund und munter! Sonnige Herbstgrüße aus der Heimat!

    Antworten
    1. Reinhard Junge sagt:
      15. Oktober 2019 um 21:11 Uhr

      Eure sonnigen Herbstgrüße haben geholfen! Schon den dritten Tag wunderschönes Wetter! Die Landschaft hier erinnert stark an die Mark Brandenburg: Sandboden, Wäldchen, kleine Seen, weitgehend flach. Schön! Und in einer Woche sind wir wieder da – gespannt, ob uns im Alltag bald wieder das Fernweh packt …

      Antworten

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