Adoptiert im Iran
Wir sind erst zwei Tage in Shiraz, fühlen uns aber so, als seien wir schon seit Ewigkeiten Familienmitglieder. Naja, nicht ganz … es ist eher so, wie Rosamunde Pilcher das Ideal einer Familie beschreiben würde – also das Gegenteil einer deutschen Familie, in der es manchmal eher zugeht wie bei Al Bundys schrecklich netter Familie oder in schlimmeren Fällen wie beim Rosenkrieg 😉
Doch kaum ist sie aus dem Wagen gestiegen und sieht uns, verwandelt sich ihr Gesicht. Mit einem herzlichen Lächeln umarmt sie mich. Als Gastgeschenk für unsere iranischen Freunde hatten Reinhard und ich ein paar Fläschchen reines Arganöl aus Indien mitgebracht. Eigentlich ist das Öl ein marokkanisches Produkt, doch im Iran bekommt man dieses nur in gepanschter und gefälschter Variante. Alle in der Familie schwören auf Arganöl als Verjüngungs- und Haarpflegewunder. Fahranaz übersetzt: „Meine Mutter freut sich sehr, euch endlich kennenzulernen. Sie sagt herzlichen Dank für das Öl.“ Dann lächelt Fahranaz. „Und ich soll dir sagen, dass du wunderschöne Augen hast.“
Mutter Samira hat sich derweil bei mir eingehakt. Ich fühle mich unheimlich wohl und von der gesamten Familie angenommen. Auch Reinhard wurde adoptiert. Er und die Männer unterhalten sich angeregt. Worüber? Das weiß ich nicht. Aber dass es ihm gut geht, das sehe ich selbst aus hundert Metern Abstand.
Vor Erreichen der Schnellstraße steigen wir nach innen. Fahranaz deutet auf die Fahrzeugarmaturen und diskutiert mit Amon. Der schüttelt den Kopf. Ob wieder was kaputt gegangen ist an der Kiste?
Endlich kommen wir an. Heute ist es voll. Sehr voll. Autos parken überall am Straßenrand. „Was ist denn hier los?“
“Freitags haben alle frei. In der Woche ist es ruhiger.“
Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. So wie hier sieht es sonst nur in der Umgebung der Cranger Kirmes aus. Vorausgesetzt natürlich, dass keine Schlangen ausgebrochen sind 😉
Ganz Shiraz scheint für heute ein Picknick auf dem Berg machen zu wollen. Auf dem Weg nach oben gibt es zahlreiche überdachte und beleuchtete Picknickstellen, die kostenlos von der Stadt zur Verfügung gestellt wurden. Alles voll. Und nicht nur das. Zwischen den Autos und auf jedem freien Flecken Wiese hat jemand eine Decke ausgebreitet. Teekannen, Grillgut, Obstteller inklusive. Aus manchen Autos dringt laute Partymusik. Puh!
Amon navigiert geschickt den breiten Pickup durch immer engere Zufahrten. Endlich finden wir eine kleine Parklücke. Jahan hat unterwegs noch die dritte Schwester Fahrideh abgeholt. Alle packen mit an. Bastmatte, Decken, Getränke und Snacks sind schnell ausgelegt. Ein paar Halbstarke tanzen bei voll aufgedrehter Mucke vor ihrem Wagen. Doch zum Glück hauen sie schon eine halbe Stunde später bald ab – nachdem sie bei Reinhard ein paar Zigaretten geschnorrt haben. Wir nutzen die Gelegenheit, uns alle besser kennenzulernen, zu essen und um die wunderschöne Nachtaussicht zu genießen.
Zufrieden, satt und hundemüde sammeln wir fast zwei Stunden später unseren Müll und das Geschirr ein. Das hätte ein idealer Abschluss sein können für einen schönen Familientag. Jahan fährt mit Frau, Mutter und den beiden Schwestern los. Amon muss jedoch auf der schmalen Straße den Wagen wenden. Nicht leicht wegen der vielen parkenden Autos. Fahranaz steigt aus und gibt Handzeichen. Aber der Platz zum Wenden ist quasi nicht vorhanden. Es dauert. Der Fahrer vor uns steigt aus und hilft. Fahranaz steigt ein. Nach weiteren drei Minuten ist es geschafft. Amon bedankt sich freundlich bei dem Glatzkopf. Der verzieht sein Gesicht und sagt etwas. Amon bleibt ruhig. Sein Gesicht und seine Stimme verraten jedoch Anspannung. Fahranaz hält es kaum noch auf dem Sitz. Sie kurbelt das Fenster herunter und schimpft. Ach du liebe Güte, was passiert denn jetzt? Der Glatzkopf wird ebenfalls laut. Amon will aussteigen. Sein Gesicht ist aus Eis. Fahranaz hält ihn zurück und brüllt stattdessen mit erhobener Faust etwas aus dem Fenster, das dem Glatzkopf offenbar nicht gefällt.
Der weiß offenbar nicht, was für ein Glück er hat, dass der Schwarzgurtträger im Teak Won Do und die Braungurtträgerin im Kung Fu im Wagen bleiben und an ihm vorbeifahren.
Später erfahren wir, worum es ging. Nachdem Amon sich bei dem Helfer bedankt hat, sagte dieser:
„Wenn man nicht Auto fahren kann, soll man es sein lassen.“
Amon (ruhig): „Wie bitte?“
Glatzkopf: „Kauf dir ein kleineres Auto oder bleib besser zu Hause.“
Amon: „Was ist denn mit dir los? Du sieht doch, wie groß der Wagen ist und wie voll es hier ist.“
Glatzkopf: „Verzieh dich endlich. Du hast die Straße lange genug blockiert.“
Farahnaz: „Verzieh du dich lieber.“
Glatzkopf: „Dein Kerl ist zu blöd zum Autofahren.“
Amon: „Möchtest du, dass ich aussteige?“
Fahranaz hält Amon zurück, dann brüllt sie: „Du bist Abschaum.“
Es werden noch ein paar Beleidigungen hin und hergerufen, dann geht es abwärts. Hinter uns fuchtelt der haarlose Blödmann mit seiner Faust in der Luft.
Der Wagen nimmt Kurs in Richtung Heimat. Alle sind nun wach und die Dialoge werden für uns übersetzt. Jetzt könnte der Abend enden. Mittlerweile ist es nach Mitternacht. Doch dann passiert dies:
Der Motor stottert.
Fahranaz rollt mit den Augen und diskutiert. Dann sehe ich es auch. Der Tank ist leer.
Echt jetzt? Erst halte ich es für einen Scherz. Sicher ist nur die Armaturenanzeige defekt. Aber als Amon den Wagen an den Rand steuert, weiß ich, dass es keiner ist.
„Ich hab ihm dreimal gesagt, dass wir tanken müssen“, sagt Fahranaz. „Amon meinte, der Sprit reicht noch. Aber er kennt den Wagen meines Vaters nicht so gut wie ich“, beschwert sie sich.
Ich steige aus und strecke die Arme aus. „Ist doch super! Wunderschöner Nachthimmel, herrliche Aussicht!“ Ich drehe mich im Kreis, als sei das der herrlichste Ort auf Erden. Nun schmunzelt Fahranaz. Und auch Amon, der gerade noch als personifiziertes schlechtes Gewissen aus dem Wagen geklettert ist, kann schon wieder lächeln. Auch Reinhard bleibt gelassen und freut sich sogar, weil er sich eine Kippe anstecken kann.
Insgesamt: Alles kein Beinbruch. Amon ruft seinen Bruder an. Der erklärt sich sofort bereit, Sprit zu bringen. Es dauert. Was macht man zur Zeitüberbrückung, wenn man kein Raucher ist? Richtig! Essen! Fahranaz schlachtet eine Melone, die noch vom Picknick übrig geblieben ist. Und ich denke nur: Was für ein verrückter Tag!
Endlich kommt Jahan. Mit einer großen Flasche, in der sich mal Flüssigwaschmittel befunden haben muss. Darin befindet sich unser Rettung. Doch leider kriegen wir das Benzin aus der Flasche nicht vernünftig in den Tank gekippt. Ein Trichter fehlt. Kein Problem. Im Iran wird improvisiert. Jahan hat ein Teppichmesser im Wagen. Aus unserer Mülltüte wird eine Plastikflasche gefischt. Eine Minute dauert der Bau des Behelfstrichters. Fertig.
Für Jahan und Nasreen lohnt sie Heimfahrt nicht mehr.
„Sie übernachten bei uns“, sagt Fahranaz. Im Iran ist sowas keine große Sache, Wir fahren heimwärts, tanken. Endlich schlafen, denke ich. Mittlerweile ist es nach 02:00 Uhr. Doch es gibt noch Tee. Und nach dem Tee werden alle nochmal richtig wach. Auch ich. Amon kommt aus der Küche und hält etwas hinter seinem Rücken verborgen. Die Attacke auf seinen Bruder erfolgt sogleich. Er zieht ihm die Schlafanzughose hinten auf und kippt eine Schale Wasser hinein. Reinhard kriegt kaum noch Luft vor Lachen, als die Brüder sich jagen. Der eine mit nasser Hose, der andere mit nassem Shirt. Mittlerweile hat sich auch Fahranaz bewaffnet, denn Amon rennt im Kreis um die Küchentheke, in der Hand hält er eine Sprühflasche. Bei jedem Stopp regnet ein Nebel auf Fahranaz. Die lässt sich das natürlich nicht gefallen und schnappt sich eine Müslischale mit Wasser …
Wir sind im Irrenhaus und es ist wunderbar darin. Vor allem, weil wir und Nasreen nur Zuschauer bei diesem heiteren Schauspiel sind. Dann zeigt Amon Ermüdungserscheinungen. „Okay“, japst er. „Finish. Good night.“
Reinhard und ich beziehen wieder die Wohnzimmermatratzen. Ich bin so müde wie ein Faultier nach dreitägigem Sportprogramm. Selbst die trockene Luft aus der Klimaanlage ist mir egal. Es ist 03:30 Uhr. Kaum liegen wir, schlafe ich ein. Trotz Krustennase, trotz der trockenen Klimaanlagenluft.
Jetzt könnte der Tag zu Ende sein. Isser aber nicht. Meine Nase beschließt, sich in eine Sprinkleranlage zu verwandeln. Ich werde wach, weil mein Gesicht feucht wird. Scheiße! Das Gefühl kenne ich. Sofort halte ich die Hände vors Gesicht und stolpere im Dunkeln ins Bad. Horror. Ein Schwall Blut klatscht auf die weiße Keramik. Es fließt wie aus einem Wasserhahn.
Ich drehe das kalte Wasser auf und halte mein Gesicht drunter. Dass Reinhard wach wird, ist nicht zu befürchten. Sein Schlaf ist so tief, dass es ihn nicht mal wecken würde, wenn eine Horde Zombies durchs Wohnzimmer rennen würde. Warum ich an Zombies denken muss? Der Blick in den Spiegel lässt sogar noch andere Ideen aufkommen. Ich bin ein Blutbader, ein Vampiropfer, eine Horrorgestalt, ein Strahlenopfer. Immer neues Blut fließt auf Hände und Spülbecken. Mit einer Hand rolle ich etwas Toilettenpapier auf und drücke es auf die Nase. Kopf gerade. Papier voll. Mehr Rolle. Mehr Blut. Mehr Papier.
Zwischendurch scheint es, als versiege der Strom. Doch kaum liege ich mit Zellstoff vor der Nase auf der Matratze, geht es wieder los. Nach einer knappen Stunde bin ich verzweifelt. Ich spucke einen schleimige Brocken geronnenes Blut ins Becken und spüle nach. So kann das doch nicht weitergehen. Brauche ich einem Arzt? Ich überlege, Reinhard zu wecken. Aber was soll der dann machen? Richtig. Nix.
Dann kommt mir die rettende Idee. Eiswürfel. Ob es welche gibt? Zwei riesige Kühlschränke stehen in der Küche. Im zweiten finde ich genau zwei einsame Würfel im Fach. Ich wickele einen in Papier und kühle alle potenziellen Stellen meines Abflussorgans. Und endlich. Die Blutung lässt nach.
Nachts um fünf reinige ich einhändig das Bad. Danach schnappe ich mir den letzten Eiswürfel und lege mich wieder neben Reinhard. Jetzt kann ich schlafen. Doch morgen, das weiß ich, werde ich mich klinisch tot fühlen. 😉
So, ihr lieben Leser. Das war EIN Tag. Könnt ihr euch vorstellen, wie eine ganze Woche in Shiraz aussieht? 😂 Wie und wann wir bei all den vielen Erlebnissen zum Schreiben kommen? Wir wundern uns ja selbst immer wieder. Aber keine Angst. Reinhard hat parallel gearbeitet, so dass ihr schon bald mit einer Fortsetzung rechnen könnt.
12 thoughts on “Adoptiert im Iran”
Das sind ja echt tolle Abenteuer, die Ihr da in und um Shiraz erlebt An einigen Stellen musste ich laut lachen. Ich beneide Euch und hoffe, dass ich nochmal die Gelegenheit haben werde, meine neuen Freunde in Shiraz wiederzusehen.
Alternativ: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommen kann, muss der Berg eben zum Propheten … 😉
Es stimmt schon. Die Menschen in diesem Land sind besonders. Der Iran wird für immer unser Herzensland sein.
hallo ihr 2,
mit viel Freude und oft auch Mitgefühl habe ich eure Berichte gelesen. Ich bewundere und beneide euch für eure Erlebnisse!!
Als ich letzte Woche ein paar Tage in Thüringen war, musste ich an deine (Reinhards) „Rucksackberatung“ für das Wandern mit Schülern auf Goethes Spuren denken… und jetzt wagst du solche Reisen…
das Leben hält so viele Überraschungen bereit, wenn man so offen ist, wie ihr!
Ganz lieben Gruß von Christine
Auf Heines (!) Spuren 10 Tage durch den Harz zu reisen, war schön, manchmal etwas chaotisch, aber auch ohne Internet und Handys halb so wild – zumal meine tolle Kollegin Christa und ich eine wunderbare Truppe leiten durften. Die jetzige Tour hätte ich ohne Chrissie nie gewagt. Offen? Ja. Zumal die Alternative darin bestandenh hätte, auf der Fernsehcouch zu verrosten und zu verfetten. Aber dazu bin ich doch noch nicht alt genug. 😉
So alt kannst du gar nicht werden, Reinhard, als dass dir das passieren könnte. 😄⭐
😊
Oh – und Reinhard – du schaust aus wie eine echte graue Eminenz.
Und das Matriarchat ist ja sichtlich voll im Kommen …
Great. Have a lot of fun together 🙂
Schmeichlerin! Und über das Matriarchat müssen wir nochmal reden! 😉
Hallo ihr 2 lieben Menschen!
„Hach, das Leben ist schön!“, dachte ich, während ich diesen Beitrag las. Und ja, bitte ganz schnell: Fortsetzung!
Selbst bin ich aus dem Urlaub wieder da, und finde es unglaublich nachhaltig, mich an euch dran zu hängen, dadurch immer wieder auf Reisen gehen zu können und neue Menschen kennenzulernen. Ohne Klimagedönsgewissen und so weiter.
Im übrigen sind in diesem Bericht die Fotos so richtig prima, weil sie im wahrsten Sinne bewegt und bewegend sind. Einfach schöööööööööön 🙂
Habt es ganz gut!
Liebe Grüße, Bina
Chrissie ist nicht nur Organisationsgenie, sondern hat auch ein Auge für gute Fotos. Ich begnüge mich da gern mit der Rolle als Nebendarsteller …
Liebe Christiane, lieber Reinhard,
einen schönen guten Abend nach Isfahan!
Was für ein Tag, den Ihr in Shiraz mit Euren Freunden verlebt habt! Auch kleinere Pannen und unvorhergesehene Dinge werden locker und mit einem Lächeln „abgearbeitet“, es wird nicht auf die Uhr gesehen, einfach den Moment gemeinsam und fröhlich genießen! Familienglück! Die Freude steht Euch ins Gesicht geschrieben! Wunderbar, dass dieses Gefühl auf beiden Seiten beruht und Ihr mittlerweile „adoptiert“ seid!
Wir sind immer wieder erstaunt, wie Ihr, trotz der ausgefüllten Tage, Zeit für den Blog findet und alle interessierten Leser auf die Freundschaftsbrücke mitnehmt!
Schon sehr oft haben wir Eure ersten Berichte vom Iran, dem Wesen der Iraner und von der Geschichte einer Freundschaft in Shiraz gelesen. Das geht ans Herz.
Deine Freundin Farahnaz, liebe Christiane, hat eine ganz besonders herzliche Ausstrahlung; Ihr versteht Euch bestens, das freut uns!
Wir haben rein interessehalber mal nachgelesen, welche Bedeutung ihr Vorname hat: Farah = Freude/die Glückliche, naz = liebevoll! Aus der Entfernung sagen wir: Das passt zu 100 Prozent!
Das nächtliche Erlebnis war kein schöner Abschluss; vielleicht durch die Klimaanlage begünstigt.
Alle guten Wünsche für Eure Weiterreise Richtung Heimat!
Guten Abend und viele Grüße!
Ja, wir haben Shiraz nur mit ein paar Tränchen verlassen können. Und bevor wir bei Unserem Freund in Teheran gelandet sind, haben wir zwei Nächte in der schwärzesten Stadt des Iran verbracht. Ein Erlebnis der besonderen Art. Bericht folgt!